Gastland Georgien – Der internationale Autor*innenwettbewerb
Surreale Gegenwelten
Drei Stücke traten im Gastlandprogramm im Wettbewerb um den internationalen Autor*innenpreis an. Am Ende gewann ein Kinderstück – das auch noch den Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts mit nach Hause nehmen kann!
von Verena Großkreutz
6. Mai 2024. "Georgien: ein kleines Land mit großer Theaterszene", unterstrich Davit Gabunia, der Kurator der Sektion Gastland, im Podiumsgespräch am Sonntag. Und er ergänzte: Georgisches Theater sei immer auch im politischen Kontext zu verstehen. Und das spiegelte sich im Programm natürlich wider. Es gab Theater sehr unterschiedlicher Formate: Von der Performance "Greenhouse" über die religiöse Parabel "Zwillinge" bis hin zur Neudeutung des antiken Medea-Mythos.
Und wie sah es aus beim Internationalen Autor:innenwettbewerb, in dem wie jedes Jahr drei Stücke von Dramatiker:innen des Gastlandes in szenischen Lesungen vorgestellt wurden? Zwei der nominierten Stücke spielen in einer postapokalyptischen respektive pandemischen Szenerie, thematisieren Umweltzerstörung und Klimawandel, in einem dritten geht es um Kinderarmut, globalisierte Ausbeutung und Artensterben.
Davit Chorbaladse: "Der weiße Hund"
In "Der weiße Hund" von Davit Chorbaladse gehen seltsame Dinge vor. Das Stück spielt in einem Haus in der "subtropischen Provinz", bewohnt von dem schwer kranken, bettlägerigen Gia und seiner Partnerin Irina, einer Lehrerin, die ihn pflegt. Und dann ist da noch Mariam, ihre Schülerin, die ihren Hund sucht, und von Irina Nachhilfe bekommt. Mariam verliebt sich in ihre Lehrerin. Es ist in diesem Stück allerdings bedeutsamer, was außerhalb des Hauses und seiner Wohnräume geschieht: auf dem weiten Feld, auf dem es steht, und das sich im Verlauf des Stücks bedrohlich verändert. Eine "körperlose Gestalt" taucht dort auf: "Die Gestalt verschlingt den Hund. Sie gräbt einen Krater in die Erde und legt sich, einer Pfütze gleich, hinein."
Später erscheint auf dem Feld eine Schulklasse, ein seltsames Ritual beginnt. Die geisterhafte Erscheinung skandiert litaneiartig "Point of no return, point of no return", die Kinder "fangen an zu singen, sie singen Olivier Messiaens 'Quartett für das Ende der Zeit'". Offenbar spiegelt das naturhafte Umfeld des Hauses innere Vorgänge: Zunächst noch deutlich verliebt, kühlt die erotische und emotionale Seite der Beziehung zwischen Irina und Gia mehr und mehr ab, sie entfremden sich voneinander.
Die dystopische Atmosphäre wird genährt durch eingeflochtene Endzeitstimmungsszenarien, die einerseits durch Gias furchtbare Albträume evoziert werden, andererseits durch die Erwähnung des Reaktorunfalls in Fukushima, der die Deutungsebene zulässt, dass sich das Haus des Paars in einem radioaktiv verseuchten Gebiet befindet.
Das Problem des Stücks: Es ist als Theaterstück zu dünn gestrickt. Vielleicht hat der Autor beim Schreiben ursprünglich an ein Drehbuch gedacht. Dafür sprechen die dünnen Dialoge in Alltagskommunikation, die Gewichtung des weiten Raums der Landschaft und die ausführlichen, aber oft lapidaren Regieanweisungen und Beschreibungen wie: "15 Minuten später klingelt der Wecker, Irina springt auf und stellt ihn aus. Auf der Wiese ist die körperlose Gestalt wieder zu sehen."
Marita Liparteliani: "Terzett"
"Terzett" der jungen Autorin Marita Liparteliani ist da schon von einem ganz anderen Kaliber. Es spielt 2020 in Tiflis und es bezieht sich deutlich auf die Coronapandemie. Es geht um drei Personen: Andro (39 Jahre), Keti (27 Jahre) und Niko (17 Jahre). Die Pandemie und das damit verbundene Leben in der Isolation (in der sich die drei gehörig auf den Wecker gehen und zuweilen quälen), die ständige Beobachtung des Körpers auf Symptome, Konservenhamstern, das Misstrauen anderen Menschen gegenüber, die tatsächliche Erkrankung – das spielt sich nur auf einer Ebene des Stücks ab, die immer wieder gewechselt wird. Zu Beginn etwa rettet Andro die ohnmächtige Keti aus einem "halb eingestürzten Gebäude" und verbarrikadiert sich mit ihr in einem Keller. Keti ist schwer erkrankt. Aber woran? Offenbar nicht an Corona. Was außerhalb dieses finsteren hermetischen Ortes vor sich geht, ist unklar. Ein großflächiger Waldbrand, der das Atmen unmöglich macht? Eine Reaktorkatastrophe? Krieg?
Es gibt unterschiedliche Spielebenen, für deren Wechsel es Signale gibt. Niko: "Hast du dir schon einen Titel für das Stück überlegt?" Oder: Andro: "Du spielst unmöglich." Niko: "Hab doch nur das gemacht, was du gesagt hast." Offenbar geht es hier um eine Theatergruppe, die während der Coronapandemie in Isolation ein dystopisches Theaterstück erarbeitet, dessen thematisierte Machtspiele sich in die reale Situation der Isolation übertragen. Aber was ist Spiel und was Realität? Wer spielt eine Rolle, und wann ist wer er selbst? Die Ebenen verschwimmen.
In der Lesung durchs Ensemble ließ sich das Verwirrspiel nicht annähernd vermitteln. Dazu ist eine Bühneninszenierung nötig. Und die wünscht man diesem Stück. Denn Beiträge zum Thema Coronazeit sind auf dem Theater (noch) ein echte Rarität. Es scheint, als habe man diese Zeit auch hier erfolgreich verdrängt. Dabei wäre eine Auseinandersetzung damit (gerade auch für Theater) immens wichtig. Da böte dieses klaustrophobische Kammerspiel ein interessantes Experiment.
Alex Chigvinadze: "Wer klopft?"
Den mit 5.000 Euro dotierten Internationalen Autor*innenpreis 2024 hat am Ende aber ein Kinderstück gewonnen: "Wer klopft?" von Alex Chigvinadze. Es beschäftigt sich in Gestalt einer Parabel mit den Themen Kinderarmut, globalisierte Ausbeutung und Artensterben – und das auf leichte, unterhaltsame Weise. Die Kinder Lili und Niko entdecken darin eine surreale Parallelwelt tierischer Existenzen: Im Fernseher sorgt ein Pandabär für den Ton, den Kühlschrank kühlt ein Eisbär und die Kuckucksuhr betreibt eine uraltes Kuckucksweibchen. Fronarbeit unter miesesten Bedingungen. Die Welt erweitert sich, die Wahrnehmung auch. Das ist der pädagogische Nutzen dieses Stücks. Denn die empathischen Kinder zeigen Verständnis für die Tiere, man freundet sich an. Und gemeinsam fädelt man es schließlich ein, dass die verarmte Familie endlich mal in den Urlaub fahren kann.
Das Stück ist nett und lebt von flotten, pointierten, witzigen Dialogen. Es lässt sich sicher was draus machen auf der Bühne. Wenn man es schafft, eine zweite Dimension hineinzuarbeiten.
Das Ensemble hatte sichtbar großen Spaß beim Lesen von "Wer klopft?", gestaltete den Text plastisch und lebendig, so dass der Funke übersprang auf die Zuschauer:innen. Und siehe da: Auch der mit 2.500 Euro dotierte Publikumspreis geht in diesem Jahr an Alex Chigvinadze.
von Davit Khorbaladze
Deutsch von Tamar Muskhelishvili
Mit: Marie Dziomber, Katharina Quast, Friedrich Witte
Einrichtung: Theresa Leopold, Caroline Ufer
Terzett
von Marita Liparteliani
Deutsch von Natia Mikeladse-Bachsoliani
Mit: Hannah Hupfauer, Timo Jander, Friedrich Witte.
Einrichtung: Paul Berg, Corinna Reichle
Wer klopft?
von Alex Chigvinadze
Deutsch von Natia Mikeladse-Bachsoliani
Mit: Marco Albrecht, Henriette Blumenau, Hans Fleischmann, Leonie Kolhoff, Jonah Moritz Quast, Leon Maria Spiegelberg.
Einrichtung : Maria Schneider
Gastland Georgien
Programm
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Zwinger 3
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb I
13:30 Uhr
Die ersten hundert Tage von Lars Werner
14:30 Uhr
Brennendes Haus von Anaïs Clerc
16:00 Uhr
2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger von Frankfurter Hauptschule
Zwinger 1
Gastspiel Lichthoftheater Hamburg
JUDEN JUDEN JUDEN
von und mit Hamburger Jüd*innen und Texten von Simoné Goldschmidt-Lechner
Regie: Ron Zimmering und Dror Aloni
Uraufführung
Marguerre-Saal
Gastspiel Düsseldorfer Schauspielhaus
My Private Jesus
von Lea Ruckpaul
nach einer Idee von Eike Weinreich
Regie: Bernadette Sonnenbichler
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
präsentiert von Zwinger x
Rahmenprogramm
Eintritt frei
Zwinger 3 und online
Deutschsprachiger Autor:innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr
Ghostbike von Julie Gurgonis
14:30 Uhr
DRUCK! von Arad Dabiri
16:00 Uhr
Kind aus Seide von Leonie Ziem
Gastspiel Theaterhaus Jena
Die Hundekotatacke
von Walter Bart, Hannah Baumann, Pina Bergemann, Nikita Buldyrski, Henrike Commichau, Linde Dercon, Leon Pfanenmüller, Anna K. Seidel / Wunderbaum
Regie: Walter Bart
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Schauspielhaus Wien
Die vielen Stimmen meines Bruders
Es Stück für an- und abwesende Körper
von Magdalena Schrefel mit Valentin Schuster
Regie: Marie Bues und Anouschka Trocker
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Theater Bielefeld
else (someone)
von Carina Sophie Eberle
Regie: Nadja Loschky
Zwinger 1
Theater und Orchester Heidelberg
Blaupause
Regie: Hannah Frauenrath
Alter Saal
Gastspiel Junges Schauspiel – Düsseldorfer Schauspielhaus
Time to Shine
Tanz und Theaterspektakel von Takao Baba + Ensemble
Inszenierung für schwerhörige und taube Menschen
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Stuttgart
forecast:oedipus
von Thomas Köck
Regie: Stefan Pucher
Uraufführung
Zwinger 3
Gastspiel Expanded Theater | Hochschule der Künste, Bern
FRONTSTAGE
Männlichkeit zwischen Spiel und Krieg
von und mit Polina Solotowizki, Bogdan Kapon und Ivan Borisov
Regie: Polina Solotowizki
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Alter Saal
Gastspiel Flinn Works (Berlin) & Asedeva (Dar es Salam)
von Ultimate Safai
Regie: Ultimate Safari
Deutsch / Englisch / Kisuaheli
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Theater Konstanz
Tragödienbastard
von Ewe Benbenek
Regie: Emel Aydoğdu
Marguerre-Saal
Gastspiel Schauspiel Hannover
Fremd
von Michel Friedmann
Regie: Stefan Kimming
Uraufführung
Zwinger 3
Theater und Orchester Heidelberg
Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau 10+
sehr frei nach Hans-Christian Andersen von Roland Schimmelpfennig
Regie: Marcel Kohler
Mülheimer Kinderstückepreis 2023
Alter Saal
Gastspiel Theater Lübeck
BOMB
von Maya Arad Yasur
Regie: Sapir Heller
Zwinger 3
Gastspiel Turbo Pascal, Berlin
Common Things
von Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Regie: Angela Löer, Eva Plischke und Frank Oberhäußer
Uraufführung
Zwinger 1
Gastspiel Schauburg München
Erik*a 15+
mit Texten von Theresa Seraphin
Regie: Daniel Pfluger und Lukas März
Alter Saal
Gastspiel Landestheater Linz
Fischer Fritz
Regie: David Bösch
Marguerre- Saal
Gastspiel Schaubühne Berlin
In Memory of Doris Bither
von Yana Thönnes
Regie: Yana Thönnes
Uraufführung
Alter Saal
Stückemarktparty
mit Musik aus dem Gastland Georgien
Eintritt frei
Sprechzimmer
Gastspiel Laboratory of Perfoming Arts, Tblissi
Zwilinge
von Giorgi Maisuradze
Regie: Giorgi Maisuradze
Gergisch mit deutschen Übertiteln
Zwinger 3
Eröffnung Gastland-Programm Georgien
Zwinger 3
Internationaler Autor:innenwettbewerb
13:30 Uhr Der weiße Hund von Davit Khorbaladze
14:30 Uhr Terzett von Marita Liparteliani
16:00 Uhr Wer klopft von Alex Chigvinadze
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili und Masho Makshvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Alter Saal
Gastspiel Royal District Theatre, Tblissi
Medea s01e06
von Paata Tsikola
Regie: Paata Tsikola
Georgisch mit deutschen Übertiteln
Sprechzimmer
Theater in Georgien
u.a mit Gastland Kurator Davit Gabunia
Podiumsgespräch
Eintritt frei
Dezernat #16
Gastspiel Open Space, Tblissi
Greenhouse
von Gvantsa Enukidze, Tamara Chumashvili, Masho Makshvili und Elene Matskhonashvili
Georgisch mit deutschen Untertiteln
Zwinger 1
Gastspiel Georgian Regional Theatre Networks
Niko Nikoladze - Sergo Parajanov
von Elene Matskhonashvili, Tengiz Khukhia und Levan Khetaguri
Regie: Elene Matskhonashvili
Georgisch nmit deutschen Übertriteln
Marguerre-Saal
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Antropolis II: Laios
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Karin Beier
Uraufführung
Alter Saal
Preisverleihung
Eintritt frei
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