Autor:innenpreis
Anaïs Clerc – Brennendes Haus
Da, wo sie herkommt, hat immer der größte recht und wenn der größte nicht mehr ist, hat immer der mittlere Recht – und davon muss die jüngste jetzt erzählen, denn da, wo sie herkommt, ist sie überhaupt die einzige Frau: Sie muss erzählen von Scham und Angst und einem Bild von einem brennenden Haus, das sie als Kind gemalt und Zuhause genannt hat. Von Männern in ihrer Familie, die nicht reden und schon gar nicht weinen. Von ihrer Flucht in die große Stadt und dem Gefühl, nie auch nur ansatzweise den Geruch des Dorfes loszuwerden zu können. Und jetzt ist der größte tot.
Anaïs Clerc (geboren in Fribourg) studiert Szenisches Schreiben an der Universität der Künste und ist Hausautorin an den Bühnen Bern. Durch diverse Assistenzen und verschiedene theaterpädagogische Projekte (Disabled Theater, Jugendgruppen) hat Anaïs den Zugang zu Theatertexten gefunden. Seit drei Jahren sind ihre Texte in Szenischen Einrichtungen u. a. in der Vagantenbühne Berlin, im Nachtasyl des Thalia Theater Hamburg und an den Autor:innentheatertagen am Deutschen Theater Berlin zu sehen. In der Spielzeit 2022 / 2023 absolvierte sie das Förderprogramm Dramenprozessor des Theater Winkelwiese und gewann mit der Stückentwicklung "befristet / für immer" gemeinsam mit dem Regisseur Tanju Girisken den Publikumspreis des Körber Festival Junge Regie. Anaïs Clerc ist gemeinsam mit Yazan Melhem Preisträgerin des Osnabrücker-Dramatiker:innenpreis für "die gegangen sind", zeitgleich wurde sie für ihr Stück "LÜGENHAUT" mit einem der Sonderpreise für Schreiben für junges Publikum ausgezeichnet. Anaïs lebt in Berlin und Bern.
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Das Stückporträt: brennendes haus – Anaïs Clerc
Von Elena Philipp
29. Februar 2024. "Die Familie, diese Bagage": Menschen, die man, als Last aus der Vergangenheit, in seine Zukunft mitschleppt. Der Größte, der Mittlere und die Kleinste arbeiten ihre gemeinsame Geschichte auf. "ich bin die erste die erste überhaupt die es einfach machen muss die erste die erzählen muss", drängt es aus der Kleinsten heraus. "die erste die irgendwie gehört werden kann und deswegen das alles hier deswegen alles immer so hier drin /", endet ihr Satz im Unbestimmten. Ein Anfang, sich des bislang Unsagbaren zu entäußern, ist damit gesetzt. Eine Ordnung oder gar einen Endpunkt finden ihre Gedanken und Gefühle vorerst nicht.
Der gemeinsame Gang von Großvater, Vater, Enkelin durch ihre Familiengeschichte, den Anaïs Clerc in "brennendes haus" inszeniert, folgt auch einem unrühmlichen, lang verschwiegenen Strang der Schweizer Historie: Der Größte, der Großvater, wurde aus seiner Herkunftsfamilie gerissen und musste auf einem fremden Hof als Verdingbub für Kost und Logis arbeiten. Gewalt hat er erfahren und wurde, das deutet Clerc in offen klaffenden Sätzen an, vom Pfarrer missbraucht: "wenn ich einen Pfarrer sehe, zuckt immer noch alles in mir", sagt der alte Mann, der sich zeitlebens in die "Traubenwelt" flüchtete, um zu vergessen. Schon nachmittags, so erinnern es der Mittlere und die Kleinste, schlief er betrunken in seinem riesigen Bauernbett, bewacht von einem Gemälde des Heiligen Sebastian.
Mitgenommen, mitgezogen, weggetragen
Des Großvaters Schicksal steht stellvertretend für hunderttausende Schweizer Kinder, die Opfer fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen wurden. Kinder zu Dingen: Ab 1800 und bis in die späten 70er Jahre rissen Behörden Kinder aus ihren Familien und platzierten Waisen oder unehelich Geborene als billige Arbeitskräfte auf Bauernhöfen. Angeblich zu ihrem eigenen Wohl – galt etwa die Armut ihrer leiblichen Eltern als selbst verschuldet und unschicklich. Wie die Kinder behandelt wurden nach dieser "Fremdplatzierung", überprüfte niemand. Betroffene erzählen von Gewalt und sexuellem Missbrauch, so wie ihn Anaïs Clerc in "brennendes haus" schildert.
Erst 1978 trat eine Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern in Kraft, die Willkür unterband. Damit standen Pflegeeltern endlich unter Aufsicht, Kinder durften nicht mehr einfach mitgenommen werden ("und weg war ich weg, weg, weg. Mitgenommen, mitgezogen, weggetragen, wie es damals üblich war", sagt der Größte in "brennendes haus"). Weitere 35 Jahre dauerte es, bis sich der Schweizer Staat 2013 bei den Opfern entschuldigte. Eine Solidaritätsstiftung entschädigte ehemalige Verdingkinder mit 25.000 Franken.
Um die transgenerationellen Traumata, die diese Verdingung auslöste, dreht sich Anaïs Clercs Text. Optisch sind durch eine konsequente Kleinschreibung alle drei, auch "der grösste", in die Minuskel gepresst – die Figuren in "brennendes haus" hat das Leben auf je eigene Weise geduckt und gestaucht. Der Mittlere wäre gerne Maler geworden: "Darin bin ich versunken, in dieser Welt bin ich glücklich gewesen. Zwischen Pigmenten, Terpentin und Sikkativen, wartend auf den richtigen Lichteinfall." Ein Ölbild des titelgebenden Hauses ist in den Stücktext eingefügt: rohe rote, gelbe, schwarze Striche, eine grobe Hausform, abstrakt, aber grell lodernd.
Das hast du mir nie erzählt
Von seiner Leidenschaft erfährt die Tochter erst in dem Gespräch, das im Stück mit dem Tod des Größten beginnt. "Das hast du mir nie erzählt", lautet eine der Formeln, die den Text durchziehen. Erstmals sprechen sie miteinander über Schmerzhaftes, über Träume und Wünsche. Alte Wunden brechen auf, Verdrängtes tritt zutage und kann verarbeitet werden: "brennendes haus" schildert auch einen Prozess der Heilung. Überzeitlich und allgemein wirkt die im (alb)traumhaft Ungefähren schwebende Dreier-Konstellation, weil keine der Figuren einen Namen trägt. Mit der häufigen Verdreifachung von Wörtern ruft Anaïs Clerc orale Traditionen auf. "ich möchte gerne weg, weg, weg", heißt es mehrfach. Lang bleibt unklar: Kommt hier etwas in Bewegung? Oder ist die Zeit eingefroren, stecken die Figuren in Unbewältigtem fest?
Archaisch ist die Lebenswelt, die alle drei erinnern: Misthaufen. Krähen, die auf Holzgabeln gesteckt werden, "als warnung warnung warnung für alle die weggehen wollen". "Warum lässt du es nicht los / die Erinnerungen an Bestrafungen, an die Kirche im Dorfe, das Weggehen in Holzschuhen, die Säue und die Tröge / warum lässt du es nur nicht los?", fragt der Mittlere seinen Vater. Dabei kreist auch er innerlich um die Vergangenheit. Bei der Kleinsten werden die Holztruckli, Berndeutsch für Schachteln, die Häkelteppiche und "Lederfinken" aka Hausschuhe dann schon zur Kulisse. Materiell geht eine Welt unter, emotional steigt sie eben erst ins Bewusstsein: Auch von diesem Anachronismus berichtet "brennendes haus".
Bis die Familienlast leichter geworden ist
Beruflich preschen die beiden Männer durch ihr Leben. Aufstieg, Aufstieg, Aufstieg: Der Großvater kehrt "reich, reich, reich" aus seiner Zeit als Verdingbub zurück, ein weltläufiger Handelsmann "mit den allerschönsten Lederschuhen". Der Mittlere verdient als Jurist viel Geld, verlässt zwar die Familie, aber sorgt finanziell für sie. Die Kleinste kann ihrer Leidenschaft folgen und zum Theater gehen. "Ich habe mir Fantasie, Verrücktheit und Spiel, alles gewünscht. Nie erwachsen werden, so habe ich mir das vorgestellt", schwärmt sie. "Ich will das unbedingt. Ich will / spielen."
An der Schauspielschule, angenommen nach unwahrscheinlichen 43 Vorsprechen, erfährt sie dann aber Geringschätzung, wird sexualisiert und ausgelacht: "Die Sprache, also da höre ich einen ganz komischen Akzent heraus"; "Sie weiss nicht, was disparat bedeutet, OMG"; "Du riechst heute so / darf ich mal / was ist das? Geil"; "Wie du die Medea gespielt hat / also Hand aufs Herz, da ist mir richtig einer ab". Ihr fehlen qua Herkunft die Distinktionsmarker, die ihre Mitschüler:innen an ihr vorbei Karriere machen lässt: "Sie riechen es, das Gehobelte, das Ungeschliffene und dass es ein Wunder ist, dass ich nicht mit dem Traktor gekommen bin". Scham und Angst begleiten sie auf ihrer Suche nach ihrem Platz in der (Theater-)Welt – "während ich ihnen Maria Stuart oder Kassandra oder Nora vorspiele, bin ich innendrin / Sonja oder Hauptmanns Helene, Annemargit, Käthi oder Elisabeth und werde es auch bleiben." Klassismus, ein weiterer Strang im Gewebe des Textes.
Gelingt es, auszubrechen aus den statisch scheinenden Verhältnissen? In denen "die Grossväter versuchen alles zu vergessen, zu verdrängen, die Väter schweigen und die ewigen Kinder Kinder bleiben wollen und dabei immer wütend sind"? Einen Weg zeigt Anaïs Clerc in "brennendes haus" auf: Reden. Der Dialog ist ein mächtiges Mittel. "Dass es so lange geht, bis die Grössten weniger Stolz verteidigen, die Mittleren weniger Angst haben und die Kleinsten nicht mehr ganz so viel Wut." Bis die Familienlast leichter geworden ist.