Tragödie, Märchen oder Traum?

In seiner Adaption des berühmten Märchens von Hans Christian Andersen hat Roland Schimmelpfennig die Verhältnisse umgekehrt: Wünschte sich bei Andersen die Tochter des Meereskönigs sehnsüchtig ein Leben auf dem Land bei den Menschen, wünschen sich nun drei Freund:innen in eine Unterwasserwelt. Marcel Kohlers Inszenierung für das Junge Theater Heidelberg gewann 2023 den renommierten Mülheimer Kinder-Stücke-Preis.

Von Verena Großkreutz

3. Mai 2024. Heiß, heißer, am heißesten. Die Sonne brennt unerbittlich. Das Meer lockt. Drei Freund:innen träumen sich weg aus dieser Wüstenei, wo es nur eine Fabrik und das Café Neptun gibt und sehr viel Sand. Oder fliehen die drei wirklich in diesem Nussschalenboot, einem alten Blechbottich, übers Meer in eine bessere Zukunft, in ihr Traumland?

"Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau" von Roland Schimmelpfennig © Theater Heidelberg

Jedenfalls haben Timo Jander, Mare Kraus und Leon Wieferich vom Jungen Theater Heidelberg ihre Zuschauer:innen sehr schnell in der Tasche im "Märchen von der kleinen Meerjungfrau" von Roland Schimmelpfennig. Das größtenteils junge Publikum quietscht vor Vergnügen, wenn die drei sich kübelweise Wasser über die Köpfe schütten und die akrobatische Maren Kraus anschließend den pitschnassen Bühnenboden für eine spektakuläre Bauchrutsche nutzt.

Bis in die Tiefsee

Hans Christian Andersens Märchenvorlage von der kleine Meerjungfrau, der Tochter des Meereskönigs, die sich sehnsüchtig ein Leben auf dem Land bei den Menschen wünscht, dreht Schimmelpfennig um: Die drei Freund:innen wünschen sich in die "Leuchtende Stadt unterm Meer" mit Palästen aus Bernstein und Muscheln und Meerjungmenschen drin. Die zwielichtige Hexe hilft hier wie dort.

Das Stück wurde ausgezeichnet mit dem Kinder-Stücke-Preis der Mülheimer Theatertage 2023, weil es "sehr poetisch" sei und "immer weiter nach vorne in noch mehr Fantasie" führe. Der Heidelberger Produktion, in der Marcel Kohler Regie geführt hat, gelingt es formidabel, daraus packende Unterhaltung, zeitkritisches und ästhetisch anspruchsvolles Theater für Kinder zu machen. Es gibt zwar auch eine längere, aufwendig animierte Videosequenz, die auf traumhaft schöne Weise das Versinken im Ozean bis in die Tiefsee mit ihren merkwürdigen Lebewesen zeigt – und das zum ohrwurmverdächtigen Pop-Song "Welle um Welle" von Lina Maly und Christoph Bernewitz.

Formidabel: Timo Jander, Mare Kraus und Leon Wieferich vom Jungen Theater Heidelberg © Theater Heidelberg

Ansonsten aber braucht das Ensemble zur Verdeutlichung des Erzählten neben seinen Stimmen und Körpern vor allem eine große Menge Blecheimer, die unterschiedliche spielerische Funktionen erfüllen: mal um das geschäftige Treiben in der Fabrik lebendig werden zu lassen, mal um eine beeindruckend hohe Pyramide daraus zu bauen, mal um das Containerschrottmonster daraus zu stapeln, als das sich der Meereskönig entpuppen wird. Denn das Traumland, das man sich erhofft hatte, ist am Ende – verlockende Algensteaks und Krabbenburger hin oder her − ein Unort: In der Stadt unterm Meer herrscht ein hartes Regiment mit Haifischarmee. Ein Geburtstagsmarsch für den König wird zur Todesmusik, weil ein Krebs ihn dirigiert, der jedes Fischchen mit den Scheren killt, das aus dem Takt gerät. Und freudig erwartet wird hier niemand.

"Hauptsache, wir sind noch da!"

Das alles erzählen die drei sehr suggestiv und stellen es in pointierten, witzigen Dialogen und Körperaktionen dar. Die Andeutungen auf Konkretes bleiben subtil: Eine Rettungsweste hier, dort ein Boot, das auf dem Schrottkönig klebt, als habe er es in die Tiefe gerissen: Drei Geflüchtete, die mit dem Boot gekentert sind? Und ist die Meerjungfrau, die am Strand angeschwemmt wurde, nicht doch ein geflüchteter Junge? Was genau gemeint ist, bleibt offen. Man darf assoziieren in Richtung realer Tragödie oder Traum oder Märchen, das immer wieder deutlich aufscheint.

Das ist sehr raffiniert gemacht. Das Ende schließlich führt heraus aus der Düsternis: "Hauptsache, wir sind noch da!", skandieren die drei, und das heißt hier: Leben.

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Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau
von Roland Schimmelpfennig, sehr frei nach Hans Christian Andersen
Regie und Bühne: Marcel Kohler, Kostüme: Marieke Horst, Künstlerische Beratung, Bühne und Animation: Ken Chinea, Musikkonzept: Christoph Bernewitz, Marcel Kohler, Dramaturgie: Theresa Leopold, Theaterpädagogik: Constanze Wohninsland).
Mit: Timo Jander, Mare Kraus, Leon Wieferich, Lina Maly (Stimme der Hexe, Interpretation des Songs "Welle um Welle").
Premiere beim Remmidemmi-Festival des Theater und Orchester Heidelberg am 7. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten

www.theaterheidelberg.de