Else dreht den Spieß um

Mit Carina Sophie Eberles "else (someone") konkurriert auch eine besondere Klassiker-Bearbeitung um den Jugendstückepreis. Eberle hat den Kern von Arthur Schnitzlers "Fräulein Else" um eine jugendliche Welt erweitert, in der Loyalitätskonflikte und Hilflosigkeit durchbrechen, aber sich die Heranwachsende Else zu wehren lernt.

Von Georg Kasch

30. April 2024. Sommerferien in den Alpen zusammen mit Cissy und Paul, im bröckelnden Hotel von Cissys Tante, das ist wie ein Lottogewinn: Wanderungen, Sonnenbaden, Tanzen unten in der Stadt. Bis Dorsday auftaucht, ein alter Freund der Eltern. Und ein unmoralisches Angebot: Nur wenn Else sich ihm nackt zeigt, hilft er ihrem Vater mit 30.000 Euro, um Bankrott und Gefängnis zu entgehen.

Arthur Schnitzler hat in seiner Novelle "Fräulein Else" von 1924 seine ich-erzählende Titelfigur in die Zwickmühle getrieben: Behält sie ihre Selbstachtung und lässt ihren Vater vor die Hunde gehen? Oder rettet sie ihre Familie, erniedrigt sich aber selbst? Der Ausweg: Sie lässt die Hüllen vor allen im Hotel fallen und nimmt sich das Leben. Davor gibt’s geballt die Sehnsüchte, Lüste und Qualen einer jungen Frau des gehobenen Bürgertums, als dessen Ende schon dämmerte.

"Fräulein Else" geistert erstaunlich oft über die Bühne, auch für junges Publikum. Problematisch bleibt, dass hier ein männlicher Autor das Innenleben einer jungen Frau mit allen möglichen moralischen und sexuellen Unschärfen ausstattet. Das macht Else komplex – aber wirkt heute ähnlich übergriffig wie Dorsdays unmoralisches Angebot.

Geballt jugendliche Welt

Nun hat das Theater Bielefeld aber nicht Schnitzler auf die Bühne gebracht, sondern Carina Sophie Eberles "else (someone)". Eberle übernimmt nur Namen und den Grundkonflikt. Drumherum entwirft sie eine neue, junge Welt aus Freundschaft, Flirt und Kaugummi – und macht aus den Schnitzler-Motiven einen Abend über weibliches Empowerment. Am Ende steht Else auf und sagt nach mehreren Anläufen, was passiert ist: "Dorsday hat versucht, sexuelle Handlungen von mir zu erpressen."

Sechs mal Else, eine Pizza und viel jugendliche Atmosphäre: Nadja Loschkys Bielefelder Inszenierung von Carina Sophie Eberles "else (someone)" © Philipp Ottendörfer

Eberle stellt frei, ob der Text als Monolog gesprochen oder auf mehrere Stimmen verteilt wird. Bei der Bielefelder Uraufführung hat sich Regisseurin Nadja Loschky für gleich sechs Elses entschieden, die manchmal durch drei weitere ergänzt werden. Sie ähneln einander, gleichen sich aber nicht: ausgewaschenes Pink im Haar, Kleidung zwischen Neo-Biedermeier und kurzen Hosen. Dazu Chöre am impressionistisch flirrenden Klavier: "Das war doch nur Spaß".

Zwischen Autonomie und Machtlosigkeit

Ausstatterin Marie-Luise Otto hat einen Raum aus braunen Vorhängen erschaffen, die je nach Lage der Dinge Verborgenes ver- oder enthüllen: unten Holzpaneele, hinten ein gemaltes Alpenpanorama, unheimlich, als pulste da etwas in der Leinwand. Alles atmet hier Gestern: Neobarocke Muster treffen auf Retro-Campingstühle, einen angeranzten Duschvorhang, einen alten Foto-Automaten.

02 elsesomeone Philipp Ottendörfer low resUnbeschwertheit, bis Dorsday ins Spiel kommt, und Else lernt, sich zu wehren © Philipp Ottendörfer

Entscheidend aber sind der fein rhythmisierte Ton und die klug dosierte Energie der tollen Spielerinnen. Amy Lombardi, Gesa Schermuly und Carmen Witt stemmen die Hauptlast, teilen Paul, Cissy, die Tante, die Eltern, Dorsday unter sich auf. Die Else wechseln sie sehr lässig, sehr auf den Punkt durch, verwandeln sich auch gemeinsam mit Dorėja Atkočiūnas, Chiara Ducomble und Ronja Oehler mal chorisch, mal vielstimmig in sie. Berauschend, wie hier die Atmosphäre einer Jugendlichkeit entsteht, vom Feeling her.

Ende der Unbeschwertheit

Lange lassen sich Autorin und Regisseurin Zeit für diese relative Unbeschwertheit, in der streitende Eltern und Liebesrangeleien unter Freund:innen die größten Sorgen sind. Bis Dorsday ins Spiel kommt, der derart zweideutig eindeutig auftritt, dass klar ist: Beim Ausziehen wird es nicht bleiben. Während auf der Tonspur das Herz wummert, wiederholt Else: "Dorsday hat mich mit Worten in Stücke gehauen".

Wie kommt man da wieder raus? Indem man sich Ursache und Wirkung, Täter und Opfer klarmacht – und den Spieß umdreht. Jetzt geht es nicht mehr nur um Dorsday, sondern um alle Typen, die sich breitbeinig in der U-Bahn zu viel Platz nehmen, um besoffene Fußballfans, die junge Frauen verbal und körperlich belästigen, um Väter, die sich dabei ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen können. Auf die Anklagebank kommt das Patriarchat, das zusammen mit den alten Mauern eingerissen wird. Und dann ziehen die Elses doch noch blank – aber zusammen mit allen anderen im Hotel, als große Solidaritätsgeste.

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else (someone)
von Carina Sophie Eberle nach Arthur Schnitzler
Inszenierung: Nadja Loschky, Bühne und Kostüme: Marie-Luise Otto, Musik: Misha Cvijović, Licht: Martin Quade, Dramaturgie: Franziska Eisele.
Mit: Amy Lombardi, Gesa Schermuly, Carmen Witt, Dorėja Atkočiūnas, Chiara Ducomble, Ronja Oehler, Statisterie.
Premiere am 8. September 2023 am Theater Bielefeld
Empfohlen ab 14 Jahren
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-bielefeld.de