Wir sind die Krankheit

1. Mai 2024. Eine zubetonierte Welt, in der sauberes Trinkwasser zum unerschwinglichen Luxus wird? Tja, selbst schuld, findet Thomas Köck, der uns in seiner Fusion des Ödipus-Mythos mit der Klimakatastrophe die menschliche Hybris vor Augen führt. Stefan Pucher hat die Uraufführung von "forecast:ödipus" inszeniert – als packenden Enthüllungskrimi.

Von Georg Kasch

"forecast:oedipus" von Thomas Köck. © Katrin Ribbe

Wir kennen die Zahlen. Wir spüren die Auswirkungen. Wir wissen: Es wird schlimmer. Und doch geht im Wesentlichen alles weiter wie bisher. Hier ein paar mehr Windräder, dort ein paar weniger Emissionen. Den Rest reden wir uns schön, Stichwort "Klimakanzler".

Was hülfe? Ein Systemwechsel! Den fordert das Orakel Pythia in Thomas Köcks "forecast:ödipus". 2015 war Köck mit "paradies fluten" im Heidelberger Wettbewerb. Bereits 2019 hatte er in "antigone. ein requiem" eine antike Tragödie mit den Toten im Mittelmeer verschmolzen. Nun trifft die Geschichte um den König von Theben, der unwissentlich seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet, auf die Klimakatastrophe.

Erneut zeigt sich: Zeitgenössisches Vokabular und antike Metrik gehen wunderbar zusammen. Das grobe Handlungsgerüst, die Konflikte lässt Köck unangetastet. Nur dreht er sie weiter: Die Krankheit, die die Bürger:innen Thebens befallen hat, sind Folgen der Klimakatastrophe (oder wie es "eine sterbende priesterin" sagt: "wir / sind die krankheit wir / wir allein"). Alle schildern sie eine zubetonierte Welt, in der sauberes Trinkwasser zum unerschwinglichen Luxus wird. Pythia kennt die einzige Lösung: eine andere Art zu denken, zu handeln, zu leben.

Stattdessen macht Teiresias, der blinde Seher, Realpolitik und lässt alles auf Ödipus als Schuldigen der Misere hinauslaufen. Und das Volk, repräsentiert durch einen Chor der Greise, trägt das mit, weil es viel bequemer ist, einen Sündenbock zu küren, als sich selbst zu ändern.

Fingerhakeln um die Macht

Bei der Stuttgarter Uraufführung wirkt Nina Pellers Bühne so tot wie die mehrspurigen Straßen, von denen die Rede ist: überall Plane, Silberfolie, Gestänge vorm giftig leuchtenden Horizont. Über allem schwebt die Medusa-Maske aus dem Versace-Logo, aus der eine KI die Regieanweisungen spricht, später auch Pythia.

Der allerdings keiner glaubt, denn "das Orakel spinnt". Stattdessen lässt Regisseur Stefan Pucher Ödipus und Kreon in aller Arroganz um die Macht fingerhakeln, bis Therese Dörrs Iokaste dazwischenplatzt als Diven-Göre in einem wuchernden Goldkleid (es stammt, wie die übrigen die geschlechtergrenzen verwischenden Kostüme, von Annabelle Witt, wie ja auch die Sprachebene reflektiert, dass gendern und Macht wunderbar zusammengehen können). Und dann sind da noch die drei Rentner:innen in Beige, die skandieren "Ich bin die Mitte der Gesellschaft". Beim Versuch, Ödipus‘ mögliche Schuld zu rekonstruieren, blendet Pucher sich überschlagende Autos in Videospielästhetik ein (die Leinwand halten ausgemergelte Krallenhände).

forecast oedipus Presse03 069 Foto Katrin Ribbe KopieÖdipus (Thomas Hauser) als Sündenbock? So leicht kommt die Menscheit nicht davon. © Katrin Ribbe

Packend ist das gestaltet, weil der Enthüllungskrimi auch hier seine Wirkung nicht versagt. Weil Thomas Hauser als schnell genervter Ödipus und Sebastian Röhrle als Stratege Kreon sich einen ebenso faszinierenden Schlagabtausch liefern wie Katharina Hauters Pythia und Michael Stillers Teiresias. Weil Josephine Köhler als Botin und Marietta Meguid als Dienerin sehr genaue Porträts jener Menschen zeichnen, die am Schwersten an den Folgen der Klimakatastrophe tragen. Und weil der Abend immer wieder eine beißende Komik entwickelt, mit der man über die Absurditäten der Gegenwart lachen kann, ohne sie damit wegzuschieben.

Köck ist ein Moralist, einer, der uns wieder und wieder in verzweifelter Sisyphos-Arbeit die Leviten liest. Selten funktioniert das so passgenau wie hier, wo die Menschen des Auto-Ländle adressiert werden und sich in Stuttgart wie im badisch-kurpfälzischen Heidelberg gemeint fühlen. Am Ende hat man wirklich begriffen, dass es unsere kollektive Hybris ist, die es soweit hat kommen lassen. Und dass es einen Lösungsvorschlag gibt: ein Mitspracherecht aller Lebewesen, höhere Spitzensteuersätze, Umverteilung. Hat wer einen besseren?

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forecast:ödipus. living on a damaged planet
von Thomas Köck
Inszenierung: Stefan Pucher, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Video / Live-Video: Ute Schall, Hannes Francke, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Thomas Hauser, Therese Dörr, Sebastian Röhrle, Michael Stiller, Katharina Hauter, Celina Rongen, Marietta Meguid, Josephine Köhler, Teresa Annina Korfmacher, Jannik Mühlenweg, Valentin Richter.
Premiere am 13. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de