Gastspiel Schauspielhaus Zürich – Frühlings Erwachen
Schwellkörper und Feuchtgebiete
von Tobias Prüwer
6. Mai 2021."Einmal f5 klicken, das aktualisiert die seite, dann läufts wieder:))))" – Zwischendurch muntern sich die Zuschauenden via Chat zum geduldig Bleiben auf. Dabei geht es beim Züricher Gastspiel eigentlich ums Gegenteil, nämlich das Stürmische und Ungestüme der Jugend, um Leidenschaft und Libido. Leider rütteln technische Probleme das live gestreamte "Frühlings Erwachen" ordentlich durch, so dass ein zwischenzeitlicher Spannungsabfall die Aufführung des Gewinnerjugendstücks zur Enttabuisierung mit Hindernissen macht.
Gefühlsgemengelagen
"Feixt du noch oder fickst du schon" könnte der Subtext dieser lockeren und hemmungslosen Inszenierung lauten, die sich dem jungen Publikum nicht anbiedern muss. Suna Gülers Inszenierung zielt mitten rein in die Bauch- und Leistengegend, ohne all zu viele Brechungen oder Filter einzusetzen und den hübsch unverkrampften Text als solchen zu geben. Der stammt von Lucien Haug und ist nicht mehr als eine lose Bezugnahme auf Frank Wedekinds einstiges Skandalstück.
Das Reclamheft mit dem Originaltext brauchen wir hier nicht .... © Zoe Aubry
Darin erklären sechs junge Schauspielende, warum sie nun gerade nicht Wedekind zeigen. Und driften dann immer weiter ab ins freie Plaudern über Allzumenschliches. Ziemlich schnörkellos verhandeln sie die Tatsachen des Lebens. Ihnen gegenübergestellt wird ein älterer Schauspieler, der zugleich als Zielscheibe für den Generationenkonflikt herhält, aber auch als Reflexionsfigur dient. Nach einer guten halben Stunde, Spannung hat sich trotz digitaler Vermittlung aufgebaut und man will wissen, was beim heimlichen Date nun passiert, ist das Bild weg. Schon zuvor hakte der Stream, aber man konnte sich durchs Aktualisieren wieder hineinkatapultieren in die Gefühlsgemengelage.
Lars#4: "Wo seid ihr? Bei mir geht noch nix!"
"gutes Gefühl, nicht alleine zu warten: "bei mir noch nicht ...... aaaah"
Selbstvergewisserung im Chat
Mittendrin im Spiel ist plötzlich alles weg. So beginnt das Publikum zu chatten, was soll man sonst auch tun? Immerhin ist man nicht allein und Lockdown macht geduldig. Außerdem kann man sich so gegenseitig versichern, dass es nicht an einem selbst liegt. Fünf Minuten dauert der Ausfall. Am Schauspiel Zürich kann die Inszenierung nicht pausieren, weil dort 50 Leute vor Ort im Saal zuschauen. So wird die Aufführung fürs digital beiwohnende Publikum zerhackstückelt. Als es weiter geht, ist muss es den Faden erst wieder aufnehmen und Nähe gewinnen.
"😍danke tolle techniker*innen!"
"Yaay!“
"👍👍👍👍👍👍👍👍"
"Es läuft"
Die Bühne ist eine einzige Treppe, auf der sich die Spielenden bewegen. Sie flackert für eine chorische Tanzszene auch einmal wie eine Lichtorgel. Der Text wirkt, wie mit den Jugendlichen erarbeitet, wenn es um Küsse im Tränengasnebel, Einsamkeit im Lockdown und erkunden des eigenen Körpers und seiner Gefühle geht. Ob das tatsächlich zutrifft, ist aber für die Wirkung unwichtig. Es sind intime und aufrichtige Bekenntnisse zugleich.
Auf der großen Treppe © Zoe Aubry
Die Dinge werden beim Namen genannt, ohne zu sehr auf Lacher oder Tabu zu achten. Da die Inszenierung nicht einfach abgefilmt wird, sondern auch einzelne Sprechende und Agierende in den Kamerafokus rücken, ist das Spiel lebhaft. Zwischen dem Reden über "das da unten" und "das da oben" – Körper und Geist – fließen dramaturgische Überlegungen. Warum man Wedekinds Stoff nicht einfach modernisieren kann, wieso der autobiografische Ansatz viel besser sei, man keine Zitate unterbringen will – und weshalb das alles letztlich scheiterte. Dann ruckelt es wieder – kurzes Selbstvergewisserung im Chat.
"not again :("
"das war zum glück nur kurz"
Amor und Bienchen
Wieder braucht es Zeit, um reinzufinden. Nun wird es noch direkter und man kann den Abend inhaltlich irgendwo zwischen „Vagina-Monologe“ und „Doing it“ ansiedeln. Die Vulva wird jetzt am lebenden Schauspieler-Modell erklärt. Dann haben die hübsch unverkrampften und offenen junge Menschen die Intensität wieder aufgebaut. Sie agieren mal als individuelle Sprecher, mal als Chor der Jugend gegen die Erwachsenen, mal als Bewegungschor. Das ist flott, kleine Musikeinsätze schaffen Überblendungen. Eine komische Figur namens Walter gibt ein Bienchen, verschießt dann als Amor Pfeile und schafft in anderen Minirollen zusätzlich lustige Verfremdung. So gelingt trotz aller Ruckeleien ein salopper Galopp durch Feuchtgebiete und Schwellkörperlandschaften.
von Lucien Haug
Uraufführung
Regie: Suna Gürler, Bühne: Moïra Gilliéron, Kostüme: Ursula Leuenberger, Musik: Yanik Soland, Manuel Gagneux Licht: Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Laura Paetau, Marta Piras
Mit: Orell Bergkraut, Sascha Bitterli, Jasmin Gloor, Matthias Kull, Matthias Neukirch, Elmira Oberholzer, Dominik Schüepp
Dauer: 90 Minuten, keine Pause
www.theaterheidelberg.de
www.schauspielhaus.ch
Programm 2021
Theater Heidelberg
von Teresa Dopler
Regie: Ron Zimmering
Mit Nachgespräch
Theater Heidelberg
Deutschsprachiger Autor*innenwettbewerb Teil I
13:30 Uhr Einfache Leute
von Anna Gschnitzer
14:30 Uhr Gelbes Gold
von Fabienne Dür
15:30 Uhr Maria Magda
von Svenja Viola Bungarten
Anschließend Nachgespräche
Alle Lesungen danach on Demand verfügbar
Digitales Gastspiel
Wir haben getan, was wir konnten
von Tuğsal Moğul
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Anschließend Nachgespräch
Theater Heidelberg
Autor*innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr Fischer Fritz
von Raphaela Bardutzky
14:30 Uhr Hypnos
von Wilke Weermann
15:30 Uhr Peeling Oranges
von Patty Kim Hamilton
Anschließend Nachgespräche
Alle Lesungen danach on demand verfügbar
Theater Heidelberg
Harte Probe – 1001 Wege, sich die Krise schönzureden
Podiumsgespräch
Have a Good Day
von Vaiva Grainytė + Lina Lapelytė
Regie: Rugilė Bardzdžiukaitė
Operomanija, Vilnius
Anschließend Nachgespräch
Digitales Gastspiel
Erste Staffel. 20 Jahre großer Bruder
von Boris Nikitin
Staatstheater Nürnberg
Anschließend Nachgespräch
von Laura Naumnann
Regie: Sapir Heller
Münchner Volkstheater
von Lucien Haug
Regie: Suna Gürler
Zürcher Schauspielhaus
Anschließend Nachgespräch
Digitales Gastspiel
von und mit Julia Häusermann
Münchner Kammerspiele
Anschließend Nachgespräch
Theater Heidelberg
Autor*innenwettbewerb Gastland
13:30 Uhr Identify
von Leva Stundzyte
14:30 Uhr Mütter und Söhne
von Matas Vildžius
15:30 Uhr Immobiliendrama
von Gabriele Labanauskaite
Anschließend Nachgespräche
Live auf dringeblieben.de
Alle Lesungen danach on demand verfügbar
Regenland
von Aidas Giniotis und Ensemble
Regie: Aidas Giniotis
Teatras Atviras Ratas, Vilnius
Anschließend Nachgespräch
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