Gastspiel She She Pop – Telefonkanon
Bei Anruf Erinnerung
von Dorothea Marcus
3. Mai 2021. Es ist nostalgisch schön, nach den vielen Stunden, Tagen, Wochen Theaterstreaming am guten alten Festnetztelefon zu sitzen. Sechs Telefonnummern stehen zur Auswahl. Als ich bei einer endlich durchkomme, meldet sich eine fremde, aber irgendwie bekannte Stimme: Sebastian Bark von SheShePop. Namentlich vorstellen, gleich duzen, bequem hinsetzen. Sebastian erzählt von seinem Eintrag ins unsichtbare Theaterarchiv der Welt: Mit seiner Stimme steige ich im Hamburg der 1990er-Jahre in einen Keller hinab, ein altes Kino, zu einem Matratzenlager. Ein dystopisches Szenario von fünf jungen Männern, ihre Körper mit Wollpulli-Schichten bedeckt, wie Weihnachtskugeln, nur untenrum nackt. Aufregende Atmosphäre, coole Musik, sie bemuttern und beflirten den Zuschauer zu trockenen Düsseldorfer Elektro-Beats auf alten Plattenspielern, fremd, sexy und loungig. Eine chillige Gemeinschaft: Die Performer reichen Essen, tanzen, erzählen ihrerseits, von einem Road-Movie zweier Beat-Poeten, einer Fahrt im Auto, Sonnenlicht in Allee auf Augenliedern, Rausch. Ich schließe die Augen, gucke ins Fensterlicht meines Küchenfensters, fahre mit meinen Handrücken über mein Gesicht und das innere Flackern, Licht und Schatten, beamen mich in eine andere Zeit, an einen Ort, an dem ich nie gewesen bin, nämlich im Jahr 2000 zu Showcase Beat The Mot auf Kampnagel, "Burn City Burn". Eine frühe Theatergrenzerfahrung.
An der Grenze und über sie hinaus
Diese lässt mich sofort an eine eigene erinnern, die ich nun erzähle: Ebenfalls in Hamburg, gab ich um 19 Uhr meine Alltagsklamotten an der Garderobe ab und tauschte sie für eine Nacht in schmuddelige Second-Hand-Unterwäsche. Für eine Nacht checkte ich ein in SIGNAs Obdachlosenheim in "Das halbe Leid", aufgebaut in einer Fabrikhalle in Hamburg-Barbek, eine Übung im "Mitleiden". Mir war als Mentorin die Chefin Signa selbst zugeteilt, deren Hand ich stundenlang hielt. Was war echt und was Fiktion? Tief bin ich in ihre Abgründe eingestiegen und habe ein paar von meinen verraten. Nachts stolperte ich aus meinem Bett in eine fürchterlich faschistoide Mobbing-Szenerie und griff nicht ein, wie ich auch sonst nicht viel tat, um das Leid zu mindern, das schlussendlich gewollt schien – ein perfides Gesellschaftssymbol. Für immer werde ich mich an die wässerige Hafergrütze im fahlen Licht des Theatermorgens erinnern. Und habe zugleich lange nicht mehr dran gedacht.
Die Verbindung steht © Kanon Cast
Gemeinsam mit Sebastian Bark habe ich Erinnerung im Erzählen geschaffen, am unsichtbaren Theater-Archiv gebaut, dass SheShePop schon seit einigen Jahren in ihrem Stück "Kanon" erschaffen (lassen). Entstanden ist bereits ein Turm mit über 400 Aufführungen, SIGNA ist darin mehrfach vertreten, genauso wie etwa Christoph Schlingensief oder Jérôme Bel, theatrale Grenzerfahrungen, lebensverändernde Momente. Nichts könnte Corona-geeigneter sein, in einer Pandemie, in der der reale Theaterbesuch langsam zu einer fernen, verblassenden Erinnerung wird. Der nächste Anruf ist sogar noch verrückter: Martin Clausen malt einen Zuschauersaal in die Luft, den ich sofort als den der Berliner Volksbühne erkenne. Er erzählt von einer Inszenierung von Anfang der 1990-Jahre, die ich auch gesehen habe – King Lear, inszeniert von Frank Castorf, scharenweise, türenknallend verließen die Zuschauer die Reihen, Cordelia pinkelte in einen Blecheimer, einer jener Skandal-Abende, die mich zur Theaterkritikerin werden ließen, so sehr durchwühlte, schockierte, nervte, begeisterte er mich. Die Mauerfall-Atmosphäre aus Berlin ist wieder da, gefühlt eine ganze Stadt im Theaterrausch, auch wenn es nur meine Studentinnen-Blase war, Martin und ich beschwören jene elektrisierende Zeit gemeinsam herauf.
Das Vergangene ist jetzt
Und auch der dritte Anruf ist toll, denn auch Berit Stumpf erzählt etwas von Signa, ich steuere ein intensiv-theatrales Walderlebnis bei Overath des Performerinnenkollektivs katze & krieg bei und bekomme gleich den Tannennadelgeruch in die Nase, sehe erneut den Rotkäppchen-Mantel hinterm Baum verschwinden. Und so wird aus der Notlösung des Distanztheaters beim Heidelberger Stückemarkt ein reiches Kopf-Archiv, das beim gemeinsamen Sprechen entsteht, ein auf charmante Weise altmodisches Telefon-Theater, das eine momentan versunken scheinende Welt beschwört – und ihre Lebendigkeit beweist.
Natürlich funktioniert das Erinnern bei einer Kritikerin mutmaßlich anders als bei einer Gelegenheitszuschauerin, aber – die Kraft des Theaters, die aus der Kraft des Flüchtigen besteht, flüchtig festzuhalten, das ist schon eine echt gute Idee: Trost, Hoffnung, Behauptung. Der Kanon des Abends, Momente der Theatergeschichte von Jena nach New York, über Essen nach Marburg oder in ein Heidelberger Gefängnis ist dann auf der Website nachzulesen wie man auch den Performern zu Lounge-Musik auf einem Youtube-Livestream beim entspannten Telefonieren, aber auch beim Essen, Lesen, in der Wohnung-Herumlaufen zusehen kann, in surrealer Mini-Zeitverschiebung, was das Gefühl von Zeit- und Ortlosigkeit noch verstärkt: Irgendwann wird die Pandemie nur ein Moment gewesen sein.
von SheShePop
Idee und Konzept Tatiana Saphir & She She Pop, ein Gastspiel des Heidelberger Stückemarkts. Mit: She She Pop, Antonia Baehr, Sebastian Bark, Martin Clausen, Lisa Lucassen, Ilja Papatheodorou, Tatjana Saphir, Berit Stumpf. Entstanden im Rahmen von #HAUonline (Mai 2020). Gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa.
Dauer: 90 Minuten oder so viele 15minütige Telefon-Slots wie gewählt.
Telefon-Kanon ging hervor aus "Kanon", eine Produktion von She She Pop in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, Künstlerhaus Mousonturm, FFT Düsseldorf und Münchner Kammerspiele. Gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa und den Hauptstadtkulturfonds Berlin.
www.sheshepop.de
www.theaterheidelberg.de
Videos
Anna Gschnitzer: Einfache Leute
Patty Kim Hamilton: Peeling Oranges
Raphaela Bardutzky: Fischer Fritz
Svenja Viola Bungarten: Maria Magda
Wilke Weermann: Hypnos
Fabienne Dür: Gelbes Gold
Programm 2021
Theater Heidelberg
von Teresa Dopler
Regie: Ron Zimmering
Mit Nachgespräch
Theater Heidelberg
Deutschsprachiger Autor*innenwettbewerb Teil I
13:30 Uhr Einfache Leute
von Anna Gschnitzer
14:30 Uhr Gelbes Gold
von Fabienne Dür
15:30 Uhr Maria Magda
von Svenja Viola Bungarten
Anschließend Nachgespräche
Alle Lesungen danach on Demand verfügbar
Digitales Gastspiel
Wir haben getan, was wir konnten
von Tuğsal Moğul
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Anschließend Nachgespräch
Theater Heidelberg
Autor*innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr Fischer Fritz
von Raphaela Bardutzky
14:30 Uhr Hypnos
von Wilke Weermann
15:30 Uhr Peeling Oranges
von Patty Kim Hamilton
Anschließend Nachgespräche
Alle Lesungen danach on demand verfügbar
Theater Heidelberg
Harte Probe – 1001 Wege, sich die Krise schönzureden
Podiumsgespräch
Have a Good Day
von Vaiva Grainytė + Lina Lapelytė
Regie: Rugilė Bardzdžiukaitė
Operomanija, Vilnius
Anschließend Nachgespräch
Digitales Gastspiel
Erste Staffel. 20 Jahre großer Bruder
von Boris Nikitin
Staatstheater Nürnberg
Anschließend Nachgespräch
von Laura Naumnann
Regie: Sapir Heller
Münchner Volkstheater
von Lucien Haug
Regie: Suna Gürler
Zürcher Schauspielhaus
Anschließend Nachgespräch
Digitales Gastspiel
von und mit Julia Häusermann
Münchner Kammerspiele
Anschließend Nachgespräch
Theater Heidelberg
Autor*innenwettbewerb Gastland
13:30 Uhr Identify
von Leva Stundzyte
14:30 Uhr Mütter und Söhne
von Matas Vildžius
15:30 Uhr Immobiliendrama
von Gabriele Labanauskaite
Anschließend Nachgespräche
Live auf dringeblieben.de
Alle Lesungen danach on demand verfügbar
Regenland
von Aidas Giniotis und Ensemble
Regie: Aidas Giniotis
Teatras Atviras Ratas, Vilnius
Anschließend Nachgespräch
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